Henry lebt im Altersheim. Seine Frau ist schon lange gestorben, zu seiner Familie hat er keinen Kontakt. Griesgrämig und in sich zurückgezogen betrachtet er alles um sich herum mit Bitternis und Verachtung. Er will sterben, kann aber nicht!

Der Tod, den er mehrmals in seinem Leben genarrt hatte, weigert sich, ihn zu holen. All seine spektakulären Suizidversuche misslingen. Dabei muss er verstehen lernen, dass der Tod, dem er schon im Mutterschoß begegnet ist, niemals sein Feind war.


Prolog

»Ach, ist das ein wunderschöner Tag. Die Sonne scheint so freundlich und weißt du was, Ilse? Die Knochen tun heute nicht so weh.« Wilhelmine schaute verzückt zum Fenster und schnalzte mit der Zunge, unterließ es aber, eine Melodie zu pfeifen. Ihre Freundin Ilse mochte es nicht und hatte sich schon des Öfteren deswegen beschwert: Sie würde sich wie ein altersschwacher Hahn anhören, dessen Hals im Maul eines Wolfs steckte. Wilhelmine war schon über sechs Jahre im Altersheim und kannte die meisten der Bewohner. Ja, das Leben hier war nicht immer das Paradies, aber eine Hölle war es auch nicht. Man musste sich eben mit dem Altern arrangieren und versuchen, die schönen Dinge zu sehen. Zu fühlen, dass man noch lebt und zu genießen, wenn der Körper nicht schmerzte. Ilse hingegen war erst vor zwei Jahren eingetroffen. Ihre Kinder hatten sie wie ein überflüssiges Bündel abgeliefert, nachdem sie ihnen ihr Haus überschrieben hatte. Wilhelmine kannte sie nur als mürrische Frau, die für niemanden ein gutes Wort hatte. Freude am Leben hatte sie nur, wenn es jemandem schlechter ging als ihr. Dann empfand sie eine tiefe Schadenfreude, die ihrem verkniffenen Antlitz ein Grinsen abnötigte und ihrer gepeinigten Seele Linderung verschaffte. Doch wer konnte es ihr verdenken? Es war nicht einfach zu ertragen, auf diese Weise von den eigenen Kindern entsorgt zu werden. Da hatte es Wilhelmine schon einfacher gehabt. Kinder hatte sie keine, die sie hätten abschieben können, und als ihr Mann verstarb, war ihr Haus einfach zu groß geworden. Achtundfünfzig Jahre waren sie miteinander in Liebe verheiratet gewesen. Nun, zumindest wenn man die Zeit der Verlobung dazu addierte. Was hatte sie nur für ein Glück gehabt. »Ach je«, seufzte sie sehnsuchtsvoll, schloss für einige Sekunden die Augen und strich sich sanft über die Wange. Bilder aus lang vergangenen Tagen bereiteten ihr einen süßen Schmerz. Ja, so war es mit der Zeit: Sie verging, und mit ihr das Leben. Sie gab sich einen Ruck, da es nichts brachte, an den alten Tagen zu hängen. Sie waren unwiderruflich vergangen.

»Wie wäre es mit einem duftenden Kräutertee? Oder vielleicht etwas Exotisches? Frühlingserwachen, zum Beispiel?«, fragte Wilhelmine, während sie begann, den kleinen Tisch einzudecken. Hier war alles klein. Das Zimmer, das eher für Liliputaner geeignet schien, der Balkon, auf dem man die Beine nicht ausstrecken und das Badezimmer, in dem man sich kaum bewegen konnte. Alles in klinischem Weiß gefliest. Ilse hatte einmal gesagt, dass diese Zimmergröße ein Vorgeschmack auf die Enge eines Sargs sei. Vielleicht hatte sie in diesem Punkt ausnahmsweise recht gehabt.

»Exotisches? Sehe ich so aus, als ob ich so etwas noch bräuchte?«, antwortete Ilse, gefolgt von einem abwertenden »Pfff!« Exotisches, dachte sie und stöhnte. In ihren Augen war Wilhelmine eine unverbesserliche Optimistin, deren Naivität an Dummheit grenzte. »Frühlingserwachen, wenn ich so etwas schon höre.« Das Einzige, was hier erwachte, waren ihre Gehässigkeiten, geboren aus ihren unerfüllt gebliebenen Lebensplänen. Das Altersheim war sicherlich nicht ihr Traumdomizil, aber sie hatte sich damit abgefunden. Es hatte etwas Finales an sich, mit Aussicht darauf, dass es nicht mehr lange gehen würde. Nicht weit vom Altersheim befand sich der Friedhof, auf dem sie alle in nicht allzu langer Zeit landen würden. Wilhelmine würde bestimmt vor ihr in die Kiste steigen, dachte Ilse. Die Träger würden ihre liebe Not haben, das war gewiss. Wilhelmine hatte einigen Speck auf den Rippen, was von den vielen Torten kam, die sie täglich verspeiste. Ein gehässiges Grinsen huschte kaum merklich über Ilses faltig-schmalen Lippen. Sie erinnerte sich an eine Fernsehreportage über König Heinrich VIII. War auch so ein Dickerchen gewesen. Angeblich war seine Leiche auf den Boden geplumpst, als sie ihn hinaustragen wollten. Überall soll der Eiter aus seinem Körper gequollen sein. Ihre Nase kräuselte sich vor Ekel und sie musterte Wilhelmine unwillkürlich, um sie nach Spuren widerlicher Flüssigkeiten abzusuchen. Die sprang putzmunter und blitzsauber um das Tischchen herum, an dem sie gemütlich ihren Tee zelebrieren wollte.

»Ach, Ilse, genieße das Leben ein wenig! Es gibt noch so viele schöne Dinge.« Doch die Angesprochene wandte den Blick von ihr ab und schaute verbittert zum Fenster hinaus. Auf Wilhelmines Lippen lag ein weiterer unbekümmerter Spruch, doch sie verkniff ihn sich rechtzeitig. Stattdessen sagte sie in mildem Ton: »Entspann dich jetzt einfach. Wenn du möchtest, dann setze dich auf den Balkon und du kannst die Kraft der Sonne in dich aufsaugen, während ich den Tisch fertig decke.«

Ilse verzog den Mund, ohne Anstalten zu machen, ihrem Rat Folge zu leisten. Verkrampft schaute sie weiterhin zum Fenster und schwieg. Wilhelmine strich die geblümte Tischdecke glatt und widmete sich wieder der Teezubereitung. Sie hielt die beiden Teedosen ihrer Wahl in die Höhe, wobei sie gedanklich die beiden Geschmäcker gegeneinander aufwog. Nach einem kurzen Seitenblick zu ihrer Mitbewohnerin entschied sie sich für den herben Kräutertee. Der süßlich anmutende Geschmack des Frühlingserwachens passte nicht zu ihrer Freundin.

Mit der Teezubereitung beschäftigt, bemerkte sie anfangs Ilses leises Stöhnen nicht. Erst als sie plötzlich aufsprang und zum Fenster eilte, schaute ihr Wilhelmine überrascht nach.

»Ist etwas passiert?« So schnell bewegte sich ihre Freundin nur sehr selten. Meistens nur dann, wenn es zu einer Beerdigung ging, da sie immer in der ersten Reihe sitzen und alles genau mit ansehen wollte.

»Da … da … schau selbst.« Panik in ihrer Stimme. Ihr ausgestreckter Arm zeigte zum Fenster gegenüber. »Da … da … krabbelt etwas.«

» Es krabbelt etwas?«, wiederholte Wilhelmine belustigt. »Dann lass es doch krabbeln, oder fürchtest du dich vor Insekten? In deinem Alter solltest du dich langsam daran gewöhnen. Du möchtest dich ja nicht verbrennen lassen, also musst du mit kleinen Krabbeltierchen rechnen.« Ilse schien nicht zugehört zu haben, zu sehr war sie gefesselt von dem, was sie beobachtete. »Da krabbelt ein Mann aufs Dach rauf! Spinnt der?«

Wilhelmine spähte ihr interessiert über die Schulter. Als sie erkannte, um wen es sich handelte, winkte sie gelangweilt ab. »Ach sooo. Ja, ja, das ist Henry. Das hat er schon öfter gemacht.« Dann drehte sie sich wieder um und goss langsam den Tee auf. »Aaaahh, das ist ein Duft. Eine Achtkräutermischung ist jetzt genau das Richtige. Die wird dir guttun. Du wirst schon sehen.«

»Aber«, schoss es aus Ilse heraus. »Der krabbelt zur Regenrinne rüber. Das ist doch gefährlich.« Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie hinaus und legte ihre Hand an das aufgeregt klopfende Herz. »Wilhelmine, du musst die Schwester rufen! Der Trottel könnte vom Dach stürzen!« Dann lehnte sie sich aus dem Fenster und schrie aufgeregt hinaus. »He, was machen Sie da auf dem Dach? Drehen Sie sofort um! Sie alter Narr! Das kann tödlich enden!«

Wilhelmine schmunzelte. Akkurat stellte sie zwei Tassen mit Unterteller auf den Tisch, legte silberne Löffel daneben und setzte sich. »Komm, Ilse, lass uns den Tee trinken, solange er noch heiß ist. Henry wird schon nichts passieren. Das ist nicht das erste Mal, dass er aus seinem Zimmer auf das Dach geklettert ist. Wahrscheinlich braucht er das. Gibt ihm einen Kick, wie die jungen Leute gern sagen. Er ist vielleicht ein Adrenalin … Ohm.« Wilhelmine blickte zur Decke mit dem Finger an den Lippen und versuchte, sich an einen bestimmten Begriff zu erinnern. Sie hatte ihn erst vor Kurzem in einer Fernsehsendung gehört, bei der diese wagemutigen Bungee-Springer gefilmt wurden. »Adrenalin … ach je, ich werde langsam vergesslich. Ist ja auch egal.«

Entsetzt blickte Ilse zu ihr um. »Hör endlich auf, mit dir selbst zu plappern. Der bricht sich noch den Hals!«

»Du verstehst nicht«, erwiderte Wilhelmine gelassen. »Henry will sich mal wieder das Leben nehmen, aber unser Gott nimmt nicht jeden. Glaube mir.« Normalerweise war es doch gerade Ilse, die alles Schlimme sehen wollte, dachte sich Wilhelmine verwundert und schüttelte den Kopf. Aus ihrer Freundin würde sie nie schlau werden. Sie erinnerte sich daran, wie sie Henry das erste Mal beobachtet hatte. Ja, auch sie war erschrocken gewesen. Sozusagen. Aber inzwischen sah sie es mit anderen Augen. Gott hatte einen eigenen Terminkalender. Ilse würde er sicherlich auch nicht wollen.

»Das ist doch Sünde. Sünde, Sünde, Sünde, pfuiii!« Ilse spie die Worte aus. »Ruf jetzt endlich die Schwester.« Ilse bestand darauf, dass sich Wilhelmine zum Notschalter bewegte und ihn drückte. »Und Pfarrer Himmel auch.«

»Warum soll unser Pfarrer hierherkommen? Henry will ihn bestimmt nicht sehen«, erwiderte Wilhelmine.

»Nicht wegen ihm. Er muss UNS segnen, sonst kommen wir auch in die Hölle mit diesem Narren.« Energisch stampfte Ilse mit dem Fuß auf und in ihren weit aufgerissenen Augen schien Wilhelmine so etwas wie panische Angst zu erkennen.

»Das wird nicht viel bringen«, erklärte Wilhelmine und schüttelte resigniert den Kopf. So hatte sie Ilse noch nie erlebt. Dieses Klappergestell hat noch richtig viel Saft in sich, dachte sie halb belustigt, halb verärgert.

»Wenn er vom Dach fällt, färbt seine Verfehlung auf uns ab. Verstehst du das nicht?«, fauchte Wilhelmine an.

Als sich Ilse wieder zum Fenster wandte, stockte ihr der Atem. Der alte Mann hatte sich tatsächlich vom Dach gestürzt.